Die Verteidiger von Mariupol bitten um Evakuierung in ein Drittland; EU-Ratspräsident Charles Michel trifft sich in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi; das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass mehr als fünf Millionen Ukrainer ihr Heimatland verlassen haben: Diese Nachrichten dominierten Tag 56 des Krieges in der Ukraine und bildeten den aktuellen Hintergrund der jüngsten #GIDSdebate.

Das Forum selbst ging über den Augenblick hinaus auf strategische Fragen ein. Die Grundlagen lieferten Professor Dr. Stefan Bayer, Professor Dr. Burkhard Meißner sowie Severin Pleyerdurch jeweils drei zur Diskussion provozierende Thesen.


Professor Dr. Bayer, Leiter Forschung am GIDS:

„Militärökonomisch lässt sich der Angriffskrieg Putins nicht erklären. Für Russland stehen Kosten und Nutzen in krassem Missverhältnis.“

„Eine Nachkriegsordnung ohne Putin ist schwer vorstellbar. Bereits jetzt darüber nachzudenken, wie diese Ordnung aussehen kann, stellt eine zentrale strategische Aufgabe dar.“

„Die kriegsinduzierte Einigkeit Europas hat Putin überrascht. Gerechnet hat er mit einem zerrütteten Westen, davon bin ich überzeugt. Eine bemerkenswerte Handlungsfähigkeit Europas bleibt aber im Nebel. Trotz des Strategischen Kompasses, den die EU im März 2022 als Aktionsplan für ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitk gebilligt hat.“


Professor Dr. Meißner, Co-Vorstand des GIDS:

„Deutschlands Politik im vergangenen Jahrzehnt (Energiepolitik, Verweigerung von Waffenlieferungen, Politik gegenüber der Ukraine und Russland) hat die sozialen und kulturellen Voraussetzungen des Krieges nicht verstanden und nicht zu dessen Verhinderung beigetragen, sondern dessen Wahrscheinlichkeit erhöht. Seine Energiepolitik hat die Bedürfnisse und Perspektiven der Bündnispartner ebenso ignoriert wie die expansionistische Ideologie Russlands.“

„Wir sind Zeugen einer Art Volkskrieg: Der Krieg wird beiderseits nicht nur mit professionellen Militärs, sondern auch mit Wehrpflichtigen geführt, seitens der Ukraine zudem mit Freiwilligen und ziviler Verteidigung. Daher sollten wir über Miliz, Raumverteidigung und ‚total defence‘ neu nachdenken und dafür kulturelles Wissen, auch über mögliche Gegner, erwerben.“

„Russland hat den Krieg strategisch verloren; dessen ökonomische Folgen werden zum großen Teil die Europäer tragen müssen.“


Severin Pleyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter des GIDS:

„Russlands Militärreform, zum Beispiel mit Blick auf die Führungskultur, die angestrebte Professionalisierung und notwendige Erneuerung der Fernmeldemittel, ist gescheitert.“

„Der bisherige Kriegsverlauf hat gezeigt: Panzer sind auf dem Schlachtfeld hoch gefährdet, die Bedeutung der Infanterie steigt, Drohnen werden vielfältig eingesetzt. Diese Erkenntnisse legen ein Überdenken auch westlicher Annahmen und Planungen nahe.“

„Im Schatten der nuklearen Abschreckung kommt dem begrenzten Krieg eine neue Bedeutung zu. Dies gilt auch für das Eskalieren um der Deeskalation willen.“

Die anschließende Diskussion, an der sich  20 Gäste in der Clausewitz-Kaserne in Hamburg und 80 weitere im Stream beteiligten,  kreiste um drei Fragen: Warum dieser Krieg nicht verhindert werden konnte; was aus seinem Verlauf zu lernen ist; welche Konsequenzen sich aus ihm und der Gefahr seiner weiteren Eskalation für die Zukunft ergeben. Dabei war auch die nukleare Abschreckung ein Thema: Deren Logik treffe beide Seiten, beschränke also wirksam die Möglichkeiten des Handelns der Kontrahenten. Deutlich wurde, dass die deutsche Außenpolitik der letzten Jahrzehnte den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und Russlands möglicherweise nützte, den Interessen der Partner und Nachbarn aber widersprach, obwohl sich diese Politik „multilateral“ nannte. In der Debatte zeichneten sich einige absehbare Konsequenzen ab: Größere Bemühungen um ein besseres Verständnis fremder und fremd gewordener Realitäten, eine intensivierte Kooperation mit den Partnern in EU und NATO und erhöhte Anstrengungen für die Verteidigung in einer spannungsreicheren Welt. Aus der Mitte der Diskutanten wurde die Idee artikuliert, regelmäßig über den Krieg in der Ukraine zu debattieren.

#GIDSdebate bringt Wissenschaftler, Offiziere, Unternehmer und Behördenvertreter zusammen. Das Forum am dritten Mittwoch eines jeden Monats umfasst üblicherweise ein Impulsreferat durch eine Expertin oder einen Experten, eine 30-minütige Diskussion und die Gelegenheit zum informellen Austausch. Derzeit findet die #GIDSdebate im hybriden Format statt, so auch am 18. Mai 2022 um 17 Uhr. Dann geht Dr. Hartwig von Schubert, ehemals evangelischer Militärdekan an der Führungsakademie der Bundeswehr, auf folgendes Thema ein: „Die Kampfmoral und die Gesellschaft. Welche Moral die Gesellschaft vom Militär lernen sollte und welche entschieden nicht.“ Weitere Informationen sind per E-Mail an buero@gids-hamburg.de erhältlich.

Autor: Redaktion GIDS

Foto: kyivcity.gov.ua

#GIDSdebate | 4. Mai 2022