„Bewaffnete Gruppierungen entfesseln einen Bürgerkrieg, der Staat und seine Armee sind überfordert. Es gibt viele Tote und Verletzte, es kommt zu zahlreichen Übergriffen auf Minderheiten, Hunderttausende sind auf der Flucht“, so lautet das Szenario der multinationalen Übung CJEX 2022, das zwar fiktiv ist, aber dennoch nicht ganz fremd scheint.

Projektleiter Oberst Kraus steht auf der Bühne des Hörsaals, die Teilnehmenden sitzen vor ihm und hören der Einweisung zu.

Alle Teilnehmenden werden in die Übungslage eingewiesen; Foto: Bundeswehr/Uwe Lenke

Sieben Nationen, vier Militärakademien und über 400 Teilnehmende – das ist der Rahmen der diesjährigen Combined Joint European Exercise, kurz CJEX. Bei der Übung trainierten zukünftige militärische Spitzenführungskräfte die Planung einer militärischen Friedensmission unter dem Dach der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. 

Multinationale Übung an vier Militärakademien 

Vier europäische Militärakademien nahmen die Teilnehmenden aus verschiedenen europäischen Ländern zeitgleich in ihren Reihen auf. Auch der deutsche Lehrgang Generalstabs- und Admiralstabsdienst National begrüßte Soldatinnen und Soldaten aus Großbritannien, Spanien, Italien, Polen, Ungarn und Rumänien an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. An allen Standorten wurden die Teilnehmenden in das gleiche Szenario eines fragilen Staates versetzt. Ziel der Übung ist es, die Region wieder zu stabilisieren und dazu einen militärischen Beitrag zu leisten. Die Planung einer solchen Operation ist sehr facettenreich: die Lage vor Ort muss festgestellt und bewertet, geografische Faktoren betrachtet und die Bedrohungslage analysiert werden, um für den eigenen Auftrag gerüstet zu sein. Hinzu kommt die Berücksichtigung von Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen im Cyberraum, der Führungs- und Informationstechnik, der zivil-militärischen Zusammenarbeit oder der Logistik. 

Eine Gruppe Teilnehmender sitzen an Tischen, während ein Soldat am Whiteboard die Lage erklärt.

Angehende Führungskräfte agieren in multinationalen Planungsgruppen; Foto: Bundeswehr/ Uwe Lenke

Europäische Kooperation wichtiger denn je

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts hat das multinationale Zusammenwirken im europäischen Rahmen an Bedeutung gewonnen. Da die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Einsatz von Streitkräften umfasst, muss auch die militärische Zusammenarbeit funktionieren. Ein Ziel der Übung ist es deshalb, die gemeinsame Vorbereitung eines Einsatzes auf operativer Ebene zu üben. Generalmajor Oliver Kohl, Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr, unterstrich in seiner Begrüßungsrede an die zukünftigen Führungskräfte die absolute Notwendigkeit des gemeinsamen Trainings: „Sie und Ihre Generation werden in der Zukunft die Führung übernehmen, um die Werte und die Freiheit unserer demokratischen Gesellschaften zu wahren. Gerade deshalb bedarf es einer gemeinsamen Vorbereitung, damit jede Bedrohung unserer Sicherheit bekämpft und die komplexen Verteidigungsfragen gemeinsam angegangen werden können“. 

Szenario und multinationale Herangehensweise

Das Szenario spielt im Jahr 2022 in Alambara. Das fiktive Land ist gezeichnet von jahrelangen ethnischen Auseinandersetzungen um Geld, Macht und natürliche Ressourcen. Nach Anraten des UNUnited Nations-Sicherheitsrats entschließen sich die Europäische Union und Großbritannien zu einer gemeinsamen Stabilisierungsmission, um die Feindseligkeiten zu beenden und einen Waffenstillstand herzustellen. Die erfolgreiche Umsetzung einer solchen Mission bedarf jedoch einer intensiven Planung. „Zum Erreichen der Übungsziele ist das gewählte Szenario allerdings als ein Vehikel zu verstehen“, so Oberst des österreichischen Generalstabs Guido Kraus, Verbindungs- und Austauschoffizier an der Führungsakademie in Hamburg und vor Ort Leiter der CJEX 2022. „Es geht vielmehr um die Methode, wie das Ziel, der sinnvolle und nachvollziehbare Einsatz von Streitkräften in dem jeweiligen Umfeld, erreicht wird.“ Dazu wenden die Soldatinnen und Soldaten einen Planungsprozess der NATO an, um methodisch eine gemeinsame Sprache zu sprechen. 

Projektleiter Oberst Kraus sitzt mit zwei Soldaten zusammen und weist die Kameraden in die Lagepläne ein.

Projektleiter Oberst Kraus (Mitte): „Teamarbeit ist eine Kernkompetenz für ein erfolgreiches Miteinander“; Foto: Bundeswehr/ Uwe Lenke

Cyberraum gewinnt an Bedeutung

In den letzten beiden Jahren konnte die CJEX pandemiebedingt nicht stattfinden. Die Zwangspause nutzten die Akademien, um das bestehende Übungsszenario an die aktuellen Anforderungen zu erweitern. Ein Beispiel für die Erweiterung ist die Herausforderung im Cyberraum. Gegnerische Hackergruppen, Cyberangriffe und Fake-News, aber auch eigene militärische Fähigkeiten eröffnen ein neues Handlungsfeld, das berücksichtigt werden muss. „Einerseits müssen wir natürlich an den Schutz unserer eigenen ITInformationstechnik-Infrastruktur denken, andererseits den Cyberraum für unsere eigenen Aktivitäten nutzen. Denn da, wo wir verwundbar sind, ist es der Gegner in aller Regel auch,“ so Oberstleutnant Andreas Kornmaier, der die Übungsteilnehmenden in dieser speziellen Thematik unterstützt. 

Die Silhouetten zweier Soldaten mit VR-Brillen vor einer hellen Präsentationswand.

Virtual-Reality-Brillen – die Zukunft für ein besseres Lagebild bei Militäroperationen; Foto: Bundeswehr/ Katharina Roggmann

„Greifbare“ Einblicke dank Virtual Reality

Auch die Digitalisierung eröffnet zukünftig neue Möglichkeiten im Planungsprozess selbst. Davon durften sich die Soldatinnen und Soldaten an einem sogenannten digitalen Lagetisch überzeugen, der vom Institut der Fraunhofer-Gesellschaft präsentiert wurde. Mithilfe einer Virtual-Reality-Brille tauchen sie in die maßstabsgetreue und dreidimensional abgebildete Umgebung ihres Operationsraums ein. Innerhalb des virtuellen Raums können sie sich frei bewegen und so ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Das Ergebnis: ein gemeinsamer und vor allem sehr realistischer Eindruck vom Gelände. „Es ist natürlich ein Unterschied, ob ich an einer Karte stehe und mir alles vorstellen muss oder ich sozusagen mittendrin sein kann und Gebäude, Berge, Täler oder Gewässer so sehe, wie sie sind. Besonders wichtig ist aber auch, dass wir alle das gleiche Verständnis von dem Gelände gewinnen, mit dem wir am Ende auch alle werden kämpfen müssen,“ so ein Übungsteilnehmer nach seiner ersten Erfahrung mit dem digitalen Lagetisch. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Nutzer theoretisch weltweit Zugriff auf das System haben. Damit muss das Führungspersonal nicht mehr an einem Ort, zum Beispiel einem Gefechtsstand, zusammengezogen werden. Es ist dann die Virtualität, die alle zusammenbringt. 

Drei Stabsoffiziere tragen VR-Brillen und testen deren Mehrwert für die Übung.

Erstmals kamen VRVirtuelle Realität-Brillen bei der multinationalen Übung zum Einsatz. Foto: Bundeswehr/ Katharina Roggmann

CJEX 2022 als Symbol eines europäischen Bewusstseins

Die Kooperation der fünf Akademien aus Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland dauert bereits seit rund 20 Jahren an. Außerdem stießen in diesem Jahr Polen, Ungarn und Rumänien hinzu – ein Zeichen, dass die CJEX eine lebendige und offene Gemeinschaft ist. Der britische Delegationsleiter, Oberstleutnant Jeff Moulton, unterstreicht diese europäische Verbindung: „Auch wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied in der Europäischen Union ist: wir sind und bleiben Europäer und als solche stehen wir sowohl für unsere gemeinsamen Werte, als auch für die europäische Sicherheit ein“. 

Oberstleutnant Jeff Moulton aus Großbritannien betrachtet mit den Teilnehmenden das weitere Vorgehen auf einer Pinnwand.

Der britische Delegationsleiter Oberstleutnant Moulton (zweite v.l.) wird in die Lage eingewiesen; Foto: Bundeswehr/ Katharina Roggmann

Führungsakademie in Hamburg als ein Ort der Begegnung

Neben dem planerischen Handwerk steht allerdings auch das Miteinander im Mittelpunkt der Übung. „Es ist genauso wichtig, sich mit den Sichtweisen, Perspektiven und Herangehensweisen anderer Nationen vertraut zu machen. Viele werden demnächst in multinationalen Stäben eingesetzt. Dafür haben sie dann hier bereits wichtige interkulturelle und soziale Erfahrungen gesammelt. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen“, gibt Oberst Kraus zu bedenken. Die Teilnehmenden nahmen neben der Übung auch an einem Freizeitprogramm teil, um gemeinsam die Stadt Hamburg kennenzulernen. Eine Hafenrundfahrt und Stadtführungen waren eine willkommene Abwechslung für die Soldatinnen und Soldaten aus ganz Europa. 

Drei Soldaten verschiedener Nationen sitzen vor einem Laptop und besprechen sich.

Die Übung CJEX – gemeinsames Miteinander in multinationalem Umfeld; Foto: Bundeswehr/ Katharina Roggmann

von Uwe Lenke